Mittwoch, 10. Juni 2015

Leseprobe "Ein Leben ist für mich nicht genug!" Jahr 1944/45

Leseprobe "Ein Leben ist für mich nicht genug!" 


Hier eine Leseprobe aus meinem Buch "Ein Leben ist für mich nicht genug!" Wir waren Anfang 1944 nach Neustadt an der Orla evakuiert worden und wollten mit einem Güterzug, in dem sonst Vieh transportiert wurde - entsprechend stank es auch - Anfang 1945 zurück nach Kassel, Westdeutschland.
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Aus unserem Onkel wurde unser Stiefvater. Da mein Bruder und ich unseren Vater bewusst so gut wie gar nicht kannten, wurde er sehr schnell unser Vater. Er kümmerte sich darum, dass die gesamte Familie Ende März/Anfang April 1945 in einem Güterwaggon Richtung Westen saß. Wie er das durch Beziehung schaffte, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich weiß nur von einer Beschäftigung vor dem Krieg bei der Bahn. Die Information, die Russen seien auf dem Vormarsch und würden Ostdeutschland besetzen, veranlasste sein unverzügliches Handeln. Scheinbar kannte er die Armee und wollte uns weiteres Leid ersparen. Die russische Armee kam jedoch schneller als alle annahmen. Irgendwo auf offener Strecke wurde der Zug von den Russen angehalten, und wir standen lange Zeit auf einem Abstellgleis. Wie uns ging es allen Menschen, die in dem Güterzug saßen und vor den Russen noch Westdeutschland erreichen wollten. Wir schliefen und saßen auf Stroh in einem Waggon, in dem normalerweise Vieh transportiert wurde. Es war eisigkalt, unsere Vorräte waren bald aufgebraucht. Keiner rechnete damit, dass wir an der Weiterfahrt nach Kassel gehindert würden, für die der Güterzug, ca. 230 km, wenn alles glatt verlaufen wäre, höchstens 3 – 4 Stunden gebraucht hätte. Eines Tages pflanzten sich ein paar russische Soldaten mit ihren Gewehren bedrohlich vor unserem Waggon auf. Meine Mutter war eine schöne Frau, meine Tante Elfriede ebenfalls. Gott sei Dank konnte unser Stiefvater das Schlimmste verhindern. Er sprach ein paar Brocken russisch mit ihnen und schaffte es, die Soldaten von ihrem Vorhaben abzubringen. Während dieser Auseinandersetzung in einer Sprache, die wir nicht verstanden, umklammerte meine Mutter meinen Bruder und mich und flüchtete in die hinterste Ecke des Waggons. Großvater und Großmutter stellten sich schützend vor uns. Meine Tante Elfriede versteckte sich hinter unserer Mutter. In ihren Augen sah ich blanke Angst. Jeden Tag versuchte unser Vater, auf den umliegenden Feldern noch Kartoffeln oder ähnlich Essbares zu finden. Es war meist hoffnungslos. Mutti sagte jedes Mal, wenn er auf Hamsterjagd ging:
„Bitte bleib in der Nähe. Was machen wir, wenn der Zug plötzlich doch Richtung Kassel fährt?“ Er lachte dann und tat optimistisch:
„Wenn ich den Zug nicht mehr rechtzeitig erreiche, komme ich zu Fuß nach. Mach dir keine Sorgen. Die paar Kilometer sind nichts im Verhältnis von Stalingrad zu euch.“ Wir hatten einen kleinen Ofen, der mit Holz gefüttert wurde, im Waggon. Wenigstens konnten wir aus Schnee heißes Wasser bereiten. Mutti brachte es fertig, aus allen möglichen Blättern, die am Wegesrand vertrocknet und gefroren an den Büschen hingen, Tee zu kochen. So schlecht schmeckte er gar nicht. Wir waren alle krank, ausgezehrt, unterernährt. Ich hatte eitrige Geschwüre am ganzen Körper, die meine Mutter jeden Tag mit Kamillentee auswusch. Es war hoffnungslos, denn es bildeten sich immer wieder neue Ekzeme voller Eiter. Medikamente gab es nicht und die Hygiene war mangelhaft. Meine Mutter war schwanger und machte sich große Sorgen. Ich hatte noch kein Zeitgefühl, ob wir eine Woche oder mehrere Wochen auf dem Abstellgleis verbrachten. Irgendwann erlaubten die Russen die Weiterfahrt. Wir waren alle froh, der Hölle entronnen zu sein, und nach vielen Stunden kamen wir in unserer Heimatstadt Kassel an. Jenny, die Schwester meiner Väter, nahm uns in Empfang und teilte mit, dass die Wohnung meiner Großeltern den Bombenangriffen bisher standgehalten hatte. Wenigstens Oma, Opa und ihre Tochter Elfriede mussten sich keine Gedanken über ein Dach über dem Kopf machen. Aber für uns alle war die Wohnung zu klein. Ob unsere unversehrt war, konnte uns Jenny nicht sagen, da sie in einem weit entfernten Stadtteil lag. Öffentliche Verkehrsmittel gab es nur streckenweise. Viele benutzten Fahrräder, um von A nach B zu kommen. Sie besaß keins. Die Stadt Kassel war zu 70 %, manche sprachen sogar von 80 %, durch Bombenangriffe zerstört. Überall, wo wir hinsahen, nur Trümmer oder Gerippe von Häusern. Die Fenster nur gähnende Löcher. Ein erschütterndes Bild, das mutlos machte. Mit einem größeren Handkarren, auf dem sich unser gesamtes Hab und Gut befand, mussten wir lange suchen, bis wir die Straße erreichten, in der wir einmal gewohnt hatten. Unsere Wohnung gab es nicht mehr. Überall, wo wir auch gingen, immer das gleiche Bild. Ganze Straßenzüge lagen in Schutt und Asche. Wo sollten wir bleiben? Müde von dem langen Fußmarsch, schmutzig, hungrig und durstig, suchten wir nach einer Lösung. Plötzlich lachte Mutti, schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn und rief:
„Garten, oh Gott, warum habe ich nicht gleich daran gedacht, die paar Meter schaffen wir noch, dann lassen wir es uns gut gehen.“ Muttis Optimismus gab uns neue Kraft. Wir machten uns auf den Weg zu unserem Garten, der sich weit entfernt von der Kasseler Innenstadt an der Peripherie eines Vorortes befand, in dem auch eine kleine Laube stand. Der Garten war groß, hatte über 1000 Quadratmeter und viele Obstbäume und Sträucher standen darin. Mehrere Stunden dauerte dieser Fußmarsch. Mein Vater hatte zwei Jahre vor Kriegsbeginn das Gartengrundstück gepachtet. Die Laube stand noch, war aber nicht winterfest und die Kälte wollte dem nahenden Frühling nicht weichen. Es gab kein fließendes Wasser, kein elektrisches Licht, keine Heizung und keine Toilette. Wasser zum Waschen spendete uns eine Pumpe. Wir waren glücklich, denn endlich hatten wir eine Bleibe. Mein Vater reparierte in den nächsten Tagen die Laube mit dem vorhandenen Material an Brettern und Nägeln, damit der Wind nicht mehr durch jede Ritze Zugang ins Innere fand. Auf den Holzboden legten wir alte Decken. Eng aneinander gekuschelt, uns gegenseitig wärmend, lagen wir zur Schlafenszeit in Reih und Glied, zugedeckt mit restlichen Decken und Mänteln, und fanden endlich Schlaf ohne Angst.

Die englische Übersetzung: 


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