Weltweit bei Amazon unter Dorothee Sargon
Leseprobe:
Irgendwann stellte ich mit gemischten Gefühlen fest, dass Michael
von mir Besitz ergriffen hatte. Ich lebte jeden Tag in Spannung,
zählte die Stunden bis zum nächsten Chat. So auch heute. Ich sehnte
regelrecht die abendlichen Chatminuten herbei, denn Michael
behandelte Themen, mit denen ich mich kaum auseinandergesetzt hatte.
Er verstand es, mich wissbegierig zu machen.
Michael: Hallo, meine süße Katharina, auf
irgendeine Weise ist mein Leben aus den Fugen geraten. Etwas zieht
mich mit aller Macht zu dir hin. Du fließt durch mein Blut, ich
sehne unsere Chat-Zeit täglich herbei. Bin ungeduldig. Du bist mein
letzter Gedanke am Abend und mein erster, wenn ich morgens erwache.
Oh – Telefon, warte bitte.
Ich schüttelte den Kopf, nachdem ich den Text gelesen hatte.
Was meint er? – So schreibt kein Freund. Verrückt! Noch während
ich darüber nachdachte, hatte Michael sich sang- und klanglos
ausgeloggt. Frechheit, ohne ein weiteres Wort. Wie eine Katze, die
eine Maus entdeckt, starrte ich auf den Bildschirm, vergaß zu atmen
und zu schlucken und bekam prompt einen Hustenanfall. Mit tränenden
Augen wartete ich noch zehn Minuten, aber er kam nicht zurück.
Wütend ging ich aus dem Netz. Ich nahm mir vor, ihm beim nächsten
Chat die Leviten zu lesen. Im ersten Impuls wollte ich ihn sperren.
Ja, ich konnte sehr cholerisch reagieren. Aber mir war sofort klar,
dass ich mir dann nur selbst schaden würde. Ich zählte bis zehn, um
keinen Fehler zu machen, konnte mir einen Abend ohne Chat nicht mehr
vorstellen. Mittlerweile hatten sich schon Verlustängste entwickelt,
die hochkamen, wenn er sich verspätete, aus welchem Grund auch
immer.
Vielleicht hatte er einen Absturz und kam nicht mehr ins Netz? Ich
warte erst einmal ab, was er zu sagen hat, entschuldigte ich das
Verhalten einige Minuten später.
Am nächsten Tag war ich zur gewohnten Zeit im Netz. Michael meldete
sich fünf Minuten später, begrüßte mich mit meine Süße,
entschuldigte sich und schrieb, dass er viel Arbeit und keine Zeit
hätte. Er verabschiedete sich mit einem vielleicht morgen und
ließ mir weder Zeit zu antworten, noch Fragen zu stellen, denn er
hatte sich sofort ausgeloggt. Ich war empört und sauer. Wütend,
ohne weitere Kommentare, schickte ich Christine die Chats der letzten
zwei Tage, gespannt auf ihre Antwort. Ich wollte gerade aus dem Netz,
als noch eine Privatnachricht von Michael eintraf.
Dear Baby,
ich möchte derjenige für dich sein, bei dem es dir am Schwersten
fällt, auf Wiedersehen zu sagen. Ich möchte dich wissen lassen,
dass ich alles, was du bist und sein wirst, liebe. Du bist meine
Seelenbegleiterin und meine beste Freundin. Ich danke Gott jeden Tag,
denn ich weiß, dass der Himmel dich geschickt hat. Du bist mein
Engel. I love you!
Ich war schockiert. Allerdings begann ganz tief in meinem Herzen ein
Pflänzchen zu sprießen, das ich aber gleich wieder im Keim
erstickte. Auch diese Nachricht erhielt Christine postwendend.
Zwanzig Minuten später rief sie mich an:
„Ich finde sein Benehmen unerhört, so verhält sich ein
pubertierender Teenie, aber kein Mann, der offensichtlich verliebt
ist. Oder ist alles nur Theater? Ich bin sprachlos. Was geht in dem
Mann vor? Will er dich auf irgendeine Weise abhängig machen?“
„Christine, was soll ich davon halten? Erst verschwindet er aus dem
Netz, beim nächsten Chat hat er keine Zeit und dann die Nachricht: I
love you. Seine akribisch abgepasste Zeit von zehn bis fünfzehn
Chat-Minuten geht mir auch auf den Geist. Ich glaube, der Kerl ist
nicht normal. Ich sende dir gleich noch ein Gedicht, wollte meinem
Ärger Luft machen. Michael habe ich es schon geschickt. Mal sehen,
was er dazu sagt“, äußerte ich mich zweifelnd.
Chat mit Zeitlimit
Ich wollte noch was schreiben – scheinbar ist es dir egal.
Dein Zeitlimit ist eine echte Qual.
Drum gehe ich jetzt in mein kuschelig warmes Bett,
dort habe ich es ruhig und nett.
Der Abend war, das sag ich jetzt, total daneben.
Wein konnte meine Stimmung auch nicht heben.
Wer seine Zeit so grausam limitiert,
soll auch wissen, wohin das Ganze führt.
Du sollst die Nächte mit irgendwem verbringen,
oder dich fröhlich durch Telefonate singen.
An Wunder glaube ich zwar immer noch,
vielleicht findest du im Zeitlimit noch irgendwo ein Loch.
Wenn nicht, ist das auch gar nicht weiter schlimm,
macht doch das Chatten wenig Sinn.
Hast du mal Zeit, dann melde dich,
oder schreibe einfach ein Gedicht.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen